Bei der Lebensversicherung war das sogenannte Policenmodell Stein des Anstoßes.
Das Urteil des EuGH war in der Branche und bei den Verbrauchern lange erwartet worden, das Verfahren beschäftigte die Richter schließlich schon an die zwanzig Jahre. Es ging ihnen um das Policenmodell, in dem das Recht der Versicherungsnehmer verankert ist, vom Vertragsabschluss zurückzutreten. Das Vertragsmodell ermöglichte Versicherern, Kunden ohne Vorlage der kompletten Versicherungsbedingungen, eine Lebensversicherung zu verkaufen. Für die Gesellschaften eröffnete sich dadurch ein einfacherer Vertrieb, denn die Vermittler mussten sich selbst und auch die Kunden nicht mit dem eher lästigen Kleingedruckten belasten. Wenn die Unterlagen dann irgendwann nach Vertragsabschluss beim Kunden ankamen, war der Lebensversicherungsvertrag schon Realität und das Papier wurde ohne weitere Ansicht abgeheftet.
Damit der Versicherungsnehmer eine Entscheidungsmöglichkeit für oder gegen seine Lebensversicherung erhält, räumte der Gesetzgeber ihm eine Widerspruchsfrist von dreißig Tagen ein, diese begann nach Erhalt aller relevanten Unterlagen. Das Policenmodell trat mit seinen Reglungen 1994 in Kraft, wurde jedoch 2008 vom deutschen Gesetzgeber wieder aus dem Verkehr gezogen. Anlass war ein von der Europäischen Kommission eingeleitetes Verfahren wegen bei der Lebensversicherung vorgekommenen Vertragsverletzungen.
Längst nicht jede Lebensversicherungspolice ist einfach kündbar.
Die Richter waren der Überzeugung, dass die Reglungen im deutschen Versicherungsvertragsgesetz zumindest im beanstandeten Zeitraum nicht auf europäischem Recht basierten. Nach diesen wären die Lebensversicherungen auch dann bindend, wenn Versicherungsnehmer bei Abschluss des Vertrags nicht alle dazugehörenden Unterlagen sichten konnten, jedoch innerhalb der Jahresfrist wieder zurücktreten wollten. Der Gerichtshof hält die Befristungsregel für nicht anwendbar, Kunden der Lebensversicherung können daher auch Jahre später von dem Vertragswerk Abstand nehmen. Der EuGH hat jedoch mit seinem Urteil keinen Freibrief zur generellen Kündigung der Lebensversicherung erteilt. Sie hatten bei ihrer Urteilsfindung nicht darüber zu entscheiden, ob die Vertragsmodalitäten bei Lebensversicherungen nach dem Policenmodell in ihrer Gesamtheit konform mit europäischem Lebensversicherungsrecht sind. Das wird aber sicher eine der nächsten Aufgaben der EuGH-Richter werden.
Von dem Urteil betroffen sind nur Kunden, die ihre Lebensversicherung ohne die begleitenden Verbraucherinformationen im Zeitraum von 1994 bis 2008 abgeschlossen haben. Beklagter in diesem Verfahren war der Allianz-Konzern, dort wird die Zahl aller abgeschlossenen Lebensversicherungen in dem Zeitraum auf 108 Millionen Policen geschätzt.