Im letzten Jahr bildeten sich durch Regen, Schnee und Frost am Dach eines Berliner Mietshauses Eiszapfen und Eisblöcke. Als sie herunterfielen, stand kein Bürger darunter und keiner verletzte sich. Doch Herr K. hatte sein Motorrad dort abgestellt, dessen anschließende Reparatur 2 600 Euro kostete. Für K. ein klarer Fall: Der Hauseigentümer muss zahlen. Doch das war eine Fehleinschätzung, denn ihm war die besondere Wetterlage hinlänglich bekannt, weshalb er den Schaden selbst zu tragen hat. K. ist verärgert. Er wohnt seit Jahrzehnten dort und hat noch nie erlebt, dass Eiszapfen vom Dach stürzten. Deshalb setzt eine Anwältin für ihn derweil Schadensersatz durch – Noch ist das Ergebnis offen.
Normalerweise gibt es keine Pflicht, Lawinengefahr und Schnee-Ansammlungen auf Dächern zu kontrollieren. Ist das Dach besonders steil oder wird es per Vorschrift angeordnet, müssen Schneegitter installiert werden.
Besonders folgenreich ist auch Glatteis: Dr. W. ist Zahnarzt und stürzt eines Morgens auf dem Weg zu seiner Praxis. Dabei brach er sich das Handgelenk. Mehrere Wochen ist er außerstande, seine Hand zu bewegen. Die Eigentümer des Hauses und dessen Hausmeister, vor dem W. stürzte, haben das Ausmaß des Unglücks erst später bemerkt, als der Anwalt des Zahnarztes sie per Post zu einer Schadensersatz-Zahlung in Höhe von mehr als 110 000 Euro aufforderte und dazu noch 10 000 Schmerzensgeld verlangte.
Es wäre die Aufgabe des Hausmeisters gewesen, zu streuen. Damit hätte er den Sturz verhindert, so der Wortlaut des Anwalts. Das Unglück ereignete sich in München. Die dortige Straßenreinigungs- und Sicherheitsverordnung schreibt vor, dass der Gehweg auf einer Breite sicher benutzbar sein muss, die zwei Fußgängern Platz bietet. Eis soll ab gestreut oder entfernt werden, Schnee muss geräumt werden.
Dagegen leisteten die Rechtsanwälte der Wohnungsbaugesellschaft Widerstand. Sie argumentierten, dass die Streu- und Räumpflicht entfalle, wenn ununterbrochener Schneefall herrsche und deshalb ohnehin gleich wieder Glätte herrscht. Das Landgericht München ist gleicher Meinung. So verhält es sich aber häufig: Oft scheitern Schadensersatzklagen bei Glatteisunfällen. Dafür kann es mehrere Gründe geben. Die Kläger können nicht schlüssig beweisen, dass sie wirklich aufgrund des Glatteises ausgerutscht und nicht einfach nur gestolpert sind. Nicht selten geben Richter den Klägern selbst die Schuld oder stellen fest, dass ein Verstoß gegen die Räum- und Streupflicht gar nicht vorliegt.
Der Zahnarzt W. erhält schließlich doch Geld, weil die Baugesellschaft und der Hausmeister auf seine Berufung hin verurteilt worden sind. Die Höhe des Schadens ist jedoch noch umstritten. Darüber hinaus wurde W. eine Mitschuld gegeben. Er muss die Hälfte selbst tragen, da er vorsichtiger hätte sein müssen.
Wie aus dem Beispiel ersichtlich wird, gibt es schon bei einem einzigen Fall sehr verschiedene Meinungen. Noch undurchsichtiger wird die Angelegenheit dadurch, dass die örtlichen Räum- und Streupflichten sehr unterschiedlich ausgeprägt sind. In den meisten Fällen regelt die betreffende Kommune mit einer Satzung den Winterdienst und besagt, wer in welchem Umfang und zu welchem Zeitpunkt seiner Pflicht zu streuen und zu räumen nachkommen muss.
Bei der Betrachtung des Bürgersteigs ist es noch relativ einfach, denn fast überall ist der Eigentümer des dahinterliegenden Grundstücks zuständig. Die Kommunen kümmern sich zumeist um die Straßen und Radwege. Bushaltestellen werden von den Verkehrsbetrieben geräumt. Die Straßen werden üblicherweise in Klassen eingeteilt, wodurch wichtige Verbindungswege priorisiert werden. Die Bürgersteige sind an besonders wichtigen Straßen werktags bereits ab sieben Uhr früh zu räumen und zu streuen. An Sonn- und Feiertagen erst ab acht oder neun Uhr. In der Regel müssen sie bis 20 Uhr abends freigehalten werden.
In Berlin rang sich das Abgeordnetenhaus zu einer Verschärfung der Räum- und Streupflicht durch, nachdem die letzten Winter eher chaotisch verlaufen waren. Die Bürgersteige der Straßen Unter den Linden oder Kurfürstendamm müssen jetzt ganze drei Meter breit geräumt sein, während die Pflicht auf den meisten anderen Bürgersteigen 1,5 Meter vorsieht. Als wichtigste Verschärfung kann allerdings gelten, dass Anlieger in jedem Fall verantwortlich bleiben. Sogar dann, wenn sie das Schippen und Räumen ihren Mietern oder einem Räumdienst aufgetragen haben. Bei Versagen des Beauftragten muss dennoch der Eigentümer haften. Andere Städte regeln es so, dass die Beauftragten im Unglücksfall zur Haftung herangezogen werden.
Mieter müssen laut vielen Mietverträgen den Winterdienst übernehmen. Sie werden zur Kasse gebeten, falls sie ihre Pflicht ohne die nötige Ernsthaftigkeit erfüllen und ein Fußgänger sich folglich verletzt. (LB/BHB)