Neu ist das Gerede um den demografischen Wandel (umgangssprachlich auch als demografischer Faktor bezeichnet, obwohl damit ein Teil der Rentenformel gemeint ist) nicht. Wie Prof. Dr. Gerd Bosbach in einem Interview mit der Tagesschau deutlich machte, befürchtete schon Konrad Adenauer im Jahr 1953, die Deutschen könnten aussterben. Und auch wenn man noch weiter zurückblickt, begegnet man immer wieder der Angst vor dem Ungleichgewicht zwischen jungen und alten Menschen. Dennoch gibt es die Deutschen noch immer. Aber wir haben Probleme. Und ein Großteil davon ist auf den demografischen Wandel zurückzuführen, so hört und liest man immer wieder. Merkels Rede auf dem Demografiegipfel bot dröge Einblicke und ließ wichtig Fakten außen vor.
Wir machen es den anderen vor
So wie schon bei der Euro-Krise, in der Deutschland eine maßgebliche Rolle spielt und bald wohl auch die letzten Sympathien in Europa verspielt hat, so sieht Merkel das Land auch beim demografischen Wandel. Den gibt es nicht nur hier, sondern auch woanders. Aber die Kanzlerin ist zuversichtlich und sagte: „Es (der demografische Wandel) ist im Übrigen nicht nur in Deutschland so, sondern es ist in vielen Ländern der Erde so. Und wenn wir in Deutschland das Ganze gut gestalten, dann sind wir sicherlich auch ein Modell für andere, die solch einen Prozess noch durchleben werden.“
Wir sitzen also hoch erhoben auf unserem „Demografie-Traktor“, bestimmen die Richtung und machen es den anderen vor, und die werden dann sicherlich ehrfürchtig alles nachmachen, was der vorbildliche Deutsche auf die Beine gestellt hat. Diese Logik hat allerdings einen gedanklichen Fehler, denn Merkel sagte weiter, dass wir auf „Offenheit in Richtung Zuwanderung setzen können.“ Die ist ihrer Meinung nach nötig, weil wir unter einem Fachkräftemangel leiden. Das ist interessant, denn Deutschland hat es jahrelang versäumt, Jugendliche angemessen auszubilden, als sie in ausreichender Zahl vorhanden waren. Arbeitgeber beklagten noch vor einigen Jahren sogar, wir hätten zu viele Jugendliche. Doch jetzt ausländische Facharbeiter nach Deutschland holen zu wollen, ist aus einem weiteren Grund zynisch: Die Jugendarbeitslosigkeit in den europäischen Krisenländern ist auf ein Niveau geklettert, das Perspektiven im eigenen Land nahezu unmöglich macht. Werden nun also gut ausgebildete Nachwuchskräfte ins Land geholt, ist das kaum noch deren freiwillige Entscheidung. Sie müssen sich darauf einlassen, ob sie wollen oder nicht. Und wie sollen andere Länder das deutsche Modell auf sich übertragen? Sollen sie auch ausländische Fachkräfte ins Land holen? Zusätzlich zu den arbeitslosen Menschen, die sie bereits haben? Wohl kaum.
Lobhudelei und ein bisschen Inhalt
In ihrer Rede des Demografiegipfels tat Angela Merkel vor allem eines: sie betonte, wie erfolgreich die Bundesregierung arbeitet. So sprach sie vom Elterngeld und von der Familie und deren wichtiger Bedeutung an sich. Sie erzählte von Besuchen unterschiedlicher Wohnmodelle, die generationsübergreifend aufgebaut sind. Altersdemenz war ein Thema, natürlich Ausbildungsplätze und die ausgezeichnete Erwerbstätigenquote bei Frauen, auch wenn bei den Teilzeitbeschäftigungen noch etwas getan werden müsse. Alles in allem aber gab sich die Kanzlerin hoch zufrieden. Um was es im Kern geht, sagte sie auch: „Es geht darum, den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu bewahren. Es geht darum, den Wohlstand in unserem Lande nachhaltig zu sichern. Und es geht dabei darum, den Menschen bei der Veränderung der eigene Biographie, des eigenen Lebenslaufs im Vergleich zu früheren Generationen auch auf diesem Weg zur Seite zu stehen und zu helfen.“
Diese Ziele hätten sie auch auf jedem anderen Gipfel formulieren können. Über 20 Minuten referierte die Kanzlerin über Themen, die irgendwie schon mit dem demografischen Wandel zu tun haben, allerdings ohne dabei Konkretes zu sagen. Dabei kam sie immer wieder auf die Familie zu sprechen und betonte, was die Bundesregierung schon alles geleistet habe. Merkel sei froh, dass es nun einen Rechtsanspruch auf Betreuungsplätze gebe. Etwas vorsichtig formulierte sie, dass die Umsetzung des Rechtsanspruchs von „unter Dreijährigen Gestalt annimmt“. Gut gesprochen, denn wenn das Gesetz am 1. August 2013 greift, werden voraussichtlich mehr als 100.000 Betreuungsplätze fehlen. Für die Kanzlerin bleibt zu hoffen, dass die Sache mit der Demografie so schnell wie möglich greift. Denn weniger Kinder bedeutet weniger fehlende Betreuungsplätze.
Was die Kanzlerin zu sagen hatte
Ganz am Ende ihrer Rede ging es dann doch noch um die ganz realen Auswirkungen des demografischen Wandels. Und darum, dass harte Zeiten auf uns zukommen. Merkel sagte, dass das „schrittweise Erreichen eines Renteneintrittsalters von 67“ unumgänglich sei. Und dass dieser Plan „im Jahre 2029“ umgesetzt worden sein soll. Mit großen Worten umriss sie eine Zukunft der Herausforderungen: „Es kommen Zeiten auf uns zu, wo deutlich weniger junge Menschen nicht nur ihre eigene Familie gründen müssen, sondern auch die soziale Sicherheit von anderen garantieren müssen, nämlich von den älteren.“
Schonungslos sagte Merkel, dass sie es gut meint mit den nächsten Generationen: „Wir müssen verhindern, dass wir Generationen der Zukunft zu stark belasten und die dann eventuell unser Land verlassen. Und wir müssen alles tun, damit die Verantwortung von Generation zu Generation weitergegeben wird. Und deshalb ist es so wichtig, dass jede Generation ihren Teil der Verantwortung auch übernimmt.“ Auch hier bleibt offen, was genau die Kanzlerin eigentlich meint.
Was die Kanzlerin nicht zu sagen hatte
Wenn man es ernst meint mit der Diskussion über den demografischen Wandel, muss man auch über die Situation der gesetzlichen Rentenversicherung sprechen. Doch die wurde in Merkels Rede mit keinem Wort erwähnt. Stattdessen predigte sie die Verantwortung künftiger Generationen, die Rente mit 67 und schwadronierte um nachhaltigen Wohlstand im Land. Dass der auf Grund einer desaströsen Einkommensentwicklung und der massiven Zunahme von prekären Arbeitsverhältnissen bei weiten Teilen der Bevölkerung gar nicht mehr gegeben ist, lässt Merkel unerwähnt. Ebenso wie die Tatsache, dass die vermeintlichen Entwicklungen des demografischen Wandels in den letzten Jahren vorrangig der Versicherungswirtschaft und den Arbeitgebern zugute kommen. Letztere verabschieden sich nach und nach aus der paritätischen Finanzierung der Sozialversicherung und überlassen das immer mehr den Arbeitnehmern. Durch Riester-Rente und private Lebens- und Rentenversicherungen profitieren Versicherungen schon seit Jahren vom dunklen Bild des demografischen Wandels.
Der Blick ins Nichts
Angela Merkel tat in ihrer Rede das, was in jüngerer Zeit gern und häufig gemacht wird. Sie erstellte ein Szenario, in dem wenig Junge eine Vielzahl an Alten versorgen müssen. Die Rente mit 67 ist da aus ihrer Sicht nur folgerichtig. Tatsächlich ist es in der Vergangenheit aber immer wieder zu Herabsetzungen des Renteneintrittsalters gekommen. Und das, obwohl die Lebenserwartung steigt und der demografische Wandel nicht erst seit dem Demografiegipfel ein Thema ist. Der Statistiker Gerd Bosbach betont zudem, dass für die Bewertung der demografischen Auswirkungen der Faktor Produktivität herangezogen werden muss. Die ist in den letzten Jahrzehnten gestiegen wie nie zuvor. Der Demograf David Eversley spricht gar von einem „irrigen Glauben“ bei der exakten Berechnung der künftigen Bevölkerungsentwicklung.
All das ist für die heutigen Macher der Horror-Szenarien unwichtig. Und in der medialen Berichterstattung fällt es auch kaum auf.
Was in Deutschland passiert, ist der Blick ins Nichts, denn Prognosen, die 10, 20 oder 30 Jahre in die Zukunft reichen, sind reine Spekulation, das war vor 50 Jahren so, das ist auch heute so. Der Demografie-Traktor fährt also ruckelnd weiter.
Author: Jörg Wellbrock
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Hinweis: Dieser Artikel spiegelt ausschließlich die persönliche Meinung des Autors wieder.