Galoppierende Inflation: Allheilmittel Druckerpresse
November 1923: Deutsche, unterwegs mit Wäschekörben voller Banknoten, die stündlich an Wert verlieren. Was war passiert? Eine Hyper-Inflation - erreicht, sobald die Teuerung monatliche 50 Prozent übersteigt. Im 20. Jahrhundert zählte US-Ökonom Steve Hanke von der John Hopkins University 56 solcher Episoden. 1923 erlebte Deutschland durchschnittliche monatliche Preissteigerungen um 29.500 Prozent, sprich 21 Prozent pro Tag. War ein Dollar vor dem Ersten Weltkrieg noch 4,20 Mark wert, kletterte der Gegenwert zuletzt auf 4,2 Billionen Mark, eine unfassbare Menge von 192 Trillionen Einheiten befand sich im Umlauf. Im Alltag wich die Mark, inzwischen als Recheneinheit genauso wertlos wie als Wertanlage, solideren Zahlungsmitteln wie Dienstleistungen und Naturalien. Am 15. November 1923 beendete die Einführung der Rentenmark die Hyper-Inflation. Die Rentenmark, durch Grund und Boden abgefedert und in ihrer Umlaufmenge begrenzt, wurde 1924 zur gold- und devisengedeckten Reichsmark.
Und heute? Die aktuelle Inflationsrate beträgt niedrige 1,2 Prozent pro Jahr. Trotzdem lebt die Angst vor einer Rückkehr der Hyper-Inflation als Symbol exzessiver Geldvernichtung in den Köpfen weiter, so Harold James, Wirtschaftshistoriker in Princeton. Wie die Mehrzahl der Ökonomen rechnet James nicht mit der Rückkehr einer Hyper-Inflation, sieht aber angesichts weiter sinkender Preise in der Eurozone die Gefahr einer Deflation. So seien Sparprogramme, wie sie die Bundesregierung der Eurozone verordne, die falsche Strategie. Nur Investitionen schafften langfristig neue Arbeitsplätze.
Kommt 1923 zurück?
Jetzt senkte die Europäische Zentralbank EZB den Leitzins erneut - auf historisch niedrige 0,25 Prozent. Stimmen mehren sich, die angesichts dieser Nullzinspolitik eine neue Hyper-Inflation erwarten. Doch gibt es Parallelen zu 1923? Das Deutsche Reich war mit 160 Prozent seiner Wirtschaftsleistung überschuldet - etwa wie Griechenland heute. Die Reichsbank begegnete Finanzierungsengpässen, indem sie frisches Geld druckte, nach dem Ersten Weltkrieg krankte die Weltwirtschaft an einer Vertrauenskrise. Gibt es noch mehr Parallelen? Nicht in heutigen Zeiten stabiler politischer Verhältnisse. Denn nach 1918 beutelten Deutschland diverse Krisen. Diese führten dazu, dass internationale Investoren, die mit einer Erholung der Wirtschaft gerechnet hatten, ihr Kapital abzogen. Unter den Rettungsmaßnahmen der Reichsbank: Ein unkontrolliertes Diskontieren von Staatspapieren und Unmengen an Schuldtiteln, deutlich unter der Inflationsrate verzinst.
Heute undenkbar, denn die Richtlinien der EZB verbieten es den Notenbanken, Staatshaushalte direkt zu bedienen. Da dies auch in anderen wichtigen Industrieländern gesetzlich verboten sei, so Sebastian Dullien, Hochschule für Technik und Wirtschaft, sei eine europäische Hyper-Inflation unwahrscheinlich. Und auch höhere Defizite führten nicht zwangsläufig dazu, wie der Schuldenstand der USA von mehr als 100 Prozent nach 1945 - oder im heutigen Japan mit 150 Prozent - zeige. Eine Inflation drohe nur unter bestimmten kombinierten ökonomischen und politischen Bedingungen. Wie zuletzt in Zimbabwe, als die Enteignung weißer Farmer zu erheblichen Produktionseinbußen führte. Doch obwohl die Inflation seit 2000 deutlich niedriger als zwischen 1960 und 1999 (im Schnitt 3,2 Prozent) liegt, beobachtet Dullien seit der Jahrtausendwende eine wachsende deutsche Inflationsangst.
Inflation oder Deflation? Experten uneins
Sorglosigkeit sei trotzdem unangebracht, mahnt dagegen Buchautor und Ex-Investmentbanker Detlef Schlichter. Die derzeit niedrigen Inflationsraten seien unmittelbares Ergebnis der Finanzkrise, wo "Quasi-Geld" im Milliardenfang vernichtet wurde. Die Geldschöpfung der Notenbanken gleiche dies in den Bankbilanzen aus, wirke also nicht real inflationsfördernd.
Aktuell üben sich europäische Staaten, durch Deutschland dazu angehalten, in Haushaltsdisziplin. So befürchtet Sebastian Dullien angesichts restriktiver deutscher Geldpolitik Deflation, Firmeninsolvenzen und erneute Krisen im Bankensektor. Aber Dullien hofft, dass sich die EZB nicht vom deutschen Inflationstrauma, sondern Tatsachen leiten lässt. Dagegen winkt Wirtschaftshistoriker Werner Abelshauser ab: Gefahr durch deutsche Stabilitätspolitik bestehe kaum, denn Geldstabilität sei das Fundament deutscher Wirtschaftskraft, während Inflationspolitik deutsche Unternehmen gefährde.
Detlef Schlichter jedenfalls ist überzeugt: Auf lange Sicht ist eine Inflation unausweichlich, setzt man weiter auf Nullzinspolitik und Notenpresse. Der Staat habe Interesse daran, dass die Preise stiegen. 1923 sanierte sich die Regierung auf Kosten der Inhaber von Kriegsanleihen, aber verschenkte auch das Vertrauen in Demokratie und Kapitalismus. Die Quittung kam 1933 - mit der Wahl Adolf Hitlers zum Reichskanzler.
Und überhaupt würden Immobilien und Aktien als Inflationsschutz überbewertet, da entsprechende Geschäftsmodelle bei Inflation kaum den erwarteten Ertrag abwerfen könnten. So war der deutsche Aktienmarkt Ende 1922 auf ein Dreihundertstel seines Niveaus von 1913 zusammengeschrumpft, und auch Besitzer von Immobilien mussten Ende 1923 Ausgleichszahlungen leisten. Goldene Zwanziger Jahre? Für Deutschland nicht wirklich - wie man sieht, wirkt das Trauma von 1923 bis heute nach.